Hilfe per Handy? Tinnitus‐App Kalmeda im Test

Eine Person hält ein Smartphone in der Hand und testet die Kalmeda Tinnitus-App

Das Thema eHealth nimmt nicht nur durch die Pandemie an Fahrt auf. Auch für Tinnitus‐Betroffene finden sich digitale Helfer auf dem Markt, so wie die App Kalmeda. Sie verspricht Unterstützung auf Basis einer kognitiven Verhaltenstherapie. Was kann sie leisten, und wo sind ihre Grenzen? Ein Betroffener berichtet.

Von Holger Crump, Journalist und Leiter der Tinnitus‐Selbsthilfegruppe „Hast Du Töne?! – Leben mit Tinnitus“ in Bergisch Gladbach

Ein Wort vorneweg: Ich kenne die App durch einen Vortrag des Initiators, HNO Dr. Uso Walter aus Duisburg. Er referierte vor rund zwei Jahren in unserer Selbsthilfegruppe über Entstehung und Behandlung von Tinnitus. Dabei berichtete er natürlich auch über die App, sein Vorhaben und die damit verbundenen Möglichkeiten. Nun nutze ich einen Testzugang, um mit eben jener App zu arbeiten und darüber zu berichten.

1. Einrichtung und erste Schritte

Die Einrichtung verläuft relativ unproblematisch. Die App fragt nach persönlichen Angaben. Zudem kann die Charakteristik des Tinnitus eingetragen werden (Zischen, Pfeifen, Brummen), ergänzt um Hinweise zur psychischen Gesamtsituation sowie Angaben zur Belastung durch den Tinnitus (Bild 1).

„Dein persönliches Übungsprogramm steht jetzt bereit“ meldet die Kalmeda‐App anschließend.
Los geht´s.

In einem zweiten Schritt erhalte ich einführende Hintergrundinformationen wie Grundlagen zu Tinnitus und zur Funktionsweise der App. Zudem liefert die App Basis‐Informationen zur Entspannung, zu Hyperakusis, zu Kiefergelenksverspannung und Hörminderung. Ein Mix aus Anleitung und Übungen, der zunächst etwas verwirrt. Bin ich schon im Übungsprogramm? Nein, aber die Angaben werden später nochmals wichtig.

Die ersten Einführungsschritte wirken wie eine Art Anamnese light: Sie zwingen mich zur Auseinandersetzung mit „meinem“ Tinnitus, mit Ursachen (soweit ich sie kenne) sowie möglichen Komorbiditäten. Es entsteht der Eindruck eines Besuches bei einem empathischen Arzt, der sich Zeit nimmt, zuhören kann, Fragen stellt. Clever gemacht.

Kalmeda Start: Einführung in die Tinnitus-Therapie
Nach der Anamnese folgen einführende Infos zur App und Tinnitus-Begleiterscheinungen (Hyperakusis, Kiefergelenkverspannungen, Hörminderung, Schlafstörung)

Danach gelange ich ins Herz der App. Der Kernbereich der Kalmeda‐App gliedert sich in mehrere Teile:

  1. Übungsprogramm
  2. Hilfen und Ziele
  3. Fortschritt
  4. Entspannung, Sound, Wissen

2. Übungsprogramm: In 5 Schritten zum Ziel

Hinter diesem Menü – einem der wichtigsten Abschnitte der App ‐ verbergen sich Infos, Aufgaben, Anregungen zum Nachdenken. Das Menü ist in 5 Level gegliedert, die wiederum in verschiedene Etappen unterteilt sind. Zur „Bearbeitung“ der Etappen erhält der Nutzer eine gewisse Bearbeitungszeit. Die Level und Etappen können durchaus mit „Hausaufgaben“ verglichen werden. Ähnlich wie sie manche Psychotherapeuten ihren Klienten nach einer Sitzung mit auf den Weg geben.

Die Etappen sind angenehm aufbereitet: Sie kommen multimedial daher, d.h. neben Text und Grafiken werden auch kurze Videos oder Sounddateien angeboten, die innerhalb der App ohne Medienbruch genutzt werden können. Ein Beispiel: In der ersten Etappe werde ich nach meiner Einstellung zum Tinnitus gefragt. Danach folgt ein kurzes Erklärvideo mit Infos, welche Faktoren die Haltung zu meinem Tinnitus negativ oder positiv beeinflussen. Schlecht sind demnach die ständige Beschäftigung mit dem Tinnitus, Selbstmitleid, Vermeidungsverhalten. Positiv sollen sich hingegen Faktoren wie Defokussierung, Entspannung oder Akzeptanz auswirken.

Ein Erklärvideo informiert, welche Einstellungen negativ oder positiv auf Tinnitus wirken

Zurück zu meiner Arbeit mit der App: Übungen zur bewussten Tinnitus‐Wahrnehmung und zum Perspektivwechsel („Was rätst Du einem Freund wenn ihn sein Tinnitus belastet“) runden die Etappe ab. Sie ist damit – hier sehr verkürzt dargestellt – abgeschlossen.

Wohlgemerkt: Das ist eine Info aus der allerersten Etappe. Als langjähriger Betroffener ist mir dies bewusst. Für unerfahrene Betroffene mit akutem Tinnitus kann dies jedoch eine wichtige Information darstellen. Dies erlebe ich in der Selbsthilfearbeit immer wieder.

Zurück zur App: Nachdem ich also meine Einstellung zum Tinnitus eingegeben und das Erklärvideo gesehen habe, wertet Kalmeda meine Eingaben aus. Ein Aha‐Effekt setzt ein: Ich vergleiche meine persönliche Einstellung mit den positiven und negativen Faktoren, die ich eben im Erklärvideo gelernt habe. Das bringt mich zum Nachdenken, an welchen „Stellschrauben“ ich arbeiten könnte, um meine eigene Einstellung zum Tinnitus zu verbessern. Der Prozess setzt sich in Gang.

Dies ist eine wohltuende Herangehensweise, die den immer wiederkehrenden Gedanken: „Ich muss den Tinnitus loswerden“ mit der verzweifelten Suche nach der raschen Erlösung vom Tinnitus ersetzen kann. Hier wird mit Einsicht in den Prozess der (De‐)Eskalierung gearbeitet. Ich erhalte Hilfen, um meine Einstellung zum Tinnitus zu überdenken – ein nachhaltiger Ansatz (kognitive Verhaltenstherapie).

Kalmeda will zum Start wissen, wie ich mit meinem Tinnitus umgehe
Kalmeda will zum Start wissen, wie ich mit meinem Tinnitus umgehe
Meinung

Die Umsetzung ist wenig aufdringlich, gleichwohl verbindlich. Und vermittelt seltsamerweise das Gefühl: „Prima, da kümmert sich jemand.“

So fragt die App zwischendurch immer wieder nach Problemfeldern, die ich zu Beginn eingetragen habe. Heute will sie z.B. wissen ob sich mein Schlaf gebessert habe. Und ob ich die Vorschläge für gutes Ein‐ oder Durchschlafen genutzt habe. Ein anderes Mal erkundigt sie sich nach der Entwicklung meiner Hyperakusis, und wie ich mit den vorgeschlagenen Übungen zurechtkomme.

Es mag eigenartig wirken, wenn eine Software sich nach meinem Befinden erkundigt. Aber die Umsetzung ist wenig aufdringlich, gleichwohl verbindlich. Und vermittelt seltsamerweise das Gefühl: „Prima, da kümmert sich jemand.“ Auch wenn ich stets journalistische Distanz einnehme schafft es die App immer wieder, mich in einen wohltuenden Sog zu versetzen. Dadurch kehre ich regelmäßig zur Arbeit mit der App zurück.

Weitere Etappen des ersten Levels sind u.a. „Wunsch ans Leben“, „Intrinsische Motivation“, Deine Stärken“ oder „Gefühle als Wegweiser“. (vgl. Bild 2)

Die App scheint dabei in sich sehr konsistent zu sein. Ein Beispiel: Unter dem Abschnitt „Meine Hilfen“ kann ich meine Haltungen, Wünsche oder Stärken eintragen. Den dort aufgeführten Begriff „Primer“ kenne ich jedoch nicht. Aber: Es gibt ja die Abteilung „Wissen“ in der App. Also schaue ich nach, und finde prompt eine Erklärung dazu. Das wirkt rund.

Die verschiedenen Etappen in Level 1 der Kalmeda‐App
Die verschiedenen Etappen in Level 1 der Kalmeda‐App

3. Hilfen und Ziele

Speziell der Bereich Ziele ist als interaktiver Trainer zu verstehen. Ich trage dort zum Beispiel „Besser schlafen“ ein – ein Problem das wohl viele Tinnitus‐Betroffene haben. Die App fragt nach einer Gefühlsbilanz (positiv/negativ), sollte ich das Ziel erreicht haben. Die Wahrscheinlichkeit das Ziel zu erreichen gebe ich mit 20 Prozent an – die vergangenen Jahre haben mich eines Besseren belehrt.

Prompt reagiert die App und fordert mich auf, mich mit den inneren Widerständen der Zielerreichung auseinanderzusetzen. Erneut ein Aha‐Effekt. Ich komme ins Nachdenken, suche für mich nach einer Lösung. Dabei unterstützen auch meine Hilfen, die ich mir während der Arbeit mit der App notiert habe. Das können innere Bilder, Motive, bewusst gemachte Stärken o.ä. sein. So werde ich allmählich zu meinem eigenen „Therapeuten“.

Dabei gerät die App jedoch an ihre Grenzen. Testweise gebe ich „Suizid“ als Ziel ein. Es erfolgt keine Reaktion, etwa im Sinne „Bitte wenden Sie sich umgehend an eine psychiatrische Ambulanz oder einen Freund“. Eine Nachfrage beim Anbieter ergibt: Die Ziele würden nicht kontrolliert. Das macht aus Gründen des Datenschutzes auch Sinn, ist bei einer therapeutischen App aber schwierig. Ein „echter“ Therapeut würde natürlich anders agieren. Ein schwer zu lösendes Problem.

4. Fortschritte immer im Blick

Dieser Bereich der App sorgt für Frust oder Motivation, je nachdem wie ich mit der App arbeite. Hier kann ich schnell nachvollziehen, wie viele Etappen ich bereits erledigt habe, ob ich die Meditationsoder Sound‐Übungen wahrgenommen habe, ob ich selbst gesteckte Ziele erreicht habe. Das ist praktisch, es beugt einer Selbstüber‐ oder ‐unterschätzung vor. Damit entpuppt sich die App nicht zuletzt als neutraler, fairer und nicht zu beeinflussender Partner im Umgang mit meinem Tinnitus.

5. Entspannung, Sound, Wissen

Hier wartet die App mit Entspannungs‐ und Meditationsübungen auf. Sie sind thematisch geordnet, eine kleine Uhr mit Klangschalenakustik hilft dabei, weder zu lang noch zu kurz zu trainieren. Thematisch geht es um Körper und Geist. Mit an Bord sind Übungen, die erfahrenen Betroffenen sicherlich aus dem autogenen Training oder der progressiven Muskelrelaxation bekannt sein dürften. Die Meditationen werden angenehm angeleitet und schaffen kleine Ruhepausen im Alltag.

Die Abteilung Sounds stellt Hintergrundgeräusche bereit, die mich vom Tinnitus ablenken sollen. Das basiert ein wenig auf dem Prinzip des Noisers, aber mit weitaus angenehmeren Klangquellen, wie sie viele Betroffene intuitiv selbst nutzen. Wind, Wasser, Wald, aber auch Stadt stehen hier zur Verfügung (vgl. Bild 3). Ich schmunzle: Ähnliches praktizieren wir in unserer Selbsthilfegruppe schon länger – mit Youtube‐Clips von Naturgeräuschen, denen wir bei Bedarf per Kopfhörer lauschen.

Unter Wissen bietet Kalmeda eine Stichwortsammlung zu relevanten Themen wie Bruxismus, Hörsturz oder Otosklerose. Als Westentaschen‐Lexikon für Tinnitus durchaus zu gebrauchen, aber vom Umfang her ausbaufähig. Dies erscheint mir umso wichtiger, da die Akzeptanz des Tinnitus bei Betroffenen mit dem Wissen um dieses Phänomen wächst. Insofern könnte der Anbieter hier nachlegen. Auch mit der Aufbereitung der Informationen.

Eine Soundbibliothek bietet dem Nutzer vielfache, naturgetreue Klänge zur Ablenkung vom Tinnitus
Eine Soundbibliothek bietet dem Nutzer vielfache, naturgetreue Klänge
zur Ablenkung vom Tinnitus

6. Fazit

Die Arbeit mit Kalmeda macht Spaß. Auch als langjährig Erfahrener profitiere ich von den Übungen. Sie helfen mir immer wieder, meine Haltung und Einstellung zum Tinnitus zu überprüfen, unterstützen bei der Defokussierung, leiten zum Perspektivwechsel oder Stressabbau an. Sie unterstützt auch in schweren Phasen, dem Tinnitus keinen dominierenden Stellenwert einzuräumen. Die stete, negative Beschäftigung mit dem Tinnitus wird zurückgedrängt.

Dabei gilt es zwischen Laustärke des Tinnitus und Belastung durch den Tinnitus zu unterscheiden. Ob der Tinnitus durch Kalmeda signifikant leiser wird sei dahingestellt. Aber die App hilft sicherlich, dass mich die Geräusche weniger stören. Und dies ist – Betroffene werden es bestätigen – ein enormer Schritt für mehr Lebensqualität.

Die Programmierung ist gelungen, Übungen oder Etappen werden clever miteinander verwoben und konstruieren ein Netz aus Hilfen, Zielen, Wissen über Tinnitus, das den Nutzer zu einem aufgeklärten Tinnitusbetroffenen werden lässt.

Fazit

Damit füllt Kalmeda derzeit eine wichtige Lücke für Betroffene auf der Suche nach Hilfe im Alltag. Sie unterstützt bei der Entkatastrophisierung des Tinnitus, treibt die eigene Akzeptanz voran, öffnet die Augen für Achtsamkeit und Entschleunigung. Wenn‐Dann Konstrukte bei den selbst gesetzten Zielen helfen bei der Überwindung so mancher Hürde.

7. Studien

Freilich muss man sich den Maßnahmen öffnen. Wer die Übungen mit Widerwillen oder allzu großer Skepsis angeht, wird den Nutzen nicht erfahren. Aber dies gilt für jede therapeutische Maßnahme. Eine aktuelle Tinnitus-Studie zur Wirksamkeit der App gibt es bereits: Die Ergebnisse der klinischen Studie bestätigen eine deutliche Verbesserung der subjektiven Tinnitusbelastung nach drei Monaten. Zusätzlich konnten psychische Belastungen wie Depressionsneigung und Stresserleben durch die Therapie mit Kalmeda verringert werden.

Im folgenden Interview spreche ich mit HNO-Arzt und Tinnitus-Experte Dr. Uso Walter über die Bedeutung der Studienergebnisse für Tinnitus-Patienten:

Derzeit habe die App ca. 33.000 registrierte Nutzer. Das Thema Datensicherheit wird dabei ernst genommen. Man kenne die Nutzer nicht, die App könne ohne Eingabe des Namens genutzt werden. „Die erhobenen Daten sind, wie für Medizinprodukte gefordert, auf einem in Deutschland befindlichen Server abzulegen“, heißt es beim Anbieter. Genutzt würden Server des Unternehmens Hetzner. Die Daten würden sechs Monate nach Abschluss der Therapie oder alternativ nach sechs Monaten Inaktivität gelöscht.

Da die App eine hohe Wirksamkeit nachweisen konnte, ist Kalmeda seit Dezember 2021 als digitale Gesundheitsanwendung dauerhaft gelistet.

Kurz nach der DiGA‐Listung sorgte Kalmeda für wenig positive Schlagzeilen, ohne dass der Anbieter Einfluss darauf hatte. Vermittlungsdienste boten an, Patienten gegen eine geringe Gebühr bei der Erlangung eines Rezepts für Kalmeda zu unterstützen. Der Anbieter wollte dies unterbinden. Er könne jedoch gegen diese Unterstützung von Patienten nichts ausrichten, heißt es aktuell aus dem Unternehmen. Es verweist auf das Bundesgesundheitsministerium, das hier eine Gesetzeslücke schließen müsse.

8. So bekommt man Kalmeda

Durch die Listung als DiGA – Digitale Gesundheitsanwendung – kann Kalmeda von jedem Arzt für gesetzlich Versicherte verschrieben werden. Dies ist insgesamt vier Mal à 90 Tage möglich. Damit kann die gesamte Anwendungsdauer von rund zehn bis zwölf Monaten abgedeckt werden. Ein Prozedere für Privatpatienten ist auf der Webseite hinterlegt.

Im Anschluss an diese Erstattungsphase kann die App für einen reduzierten Beitrag von 9,99 Euro im Monat weiter genutzt werden. Ansonsten kostet die App knapp 30 Euro im Monat und ist quartalsweise kündbar.

Zum Autor

Holger Crump ist freier Journalist und arbeitet u.a. für die Wissenschaftskommunikation von „Tinnitus Science“, ein Projekt der Tinnitus Research Initiative/Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg. Als Gründer und Leiter der Selbsthilfegruppe „Hast Du Töne?! – Leben mit Tinnitus“ in Bergisch Gladbach ist er selbst seit knapp 30 Jahren von Tinnitus betroffen. Holger Crump ist Mitglied im Advisory Board des UNITI Forschungsprojekts https://uniti.tinnitusresearch.net/